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VAR: Wenn Technik unseren Fußball kaputtmacht

  • 6. Nov.
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 17. Nov.



Der VAR – der Video Assistant Referee – wurde als Fortschritt gefeiert. Endlich, so hieß es, sollten gravierende Fehlentscheidungen der Vergangenheit angehören. Mit Kameras, Kalibrierungslinien und modernster Technologie wollte man das Spiel gerechter machen. Doch was als Revolution der Fairness begann, hat sich zu einem Symbol für Entfremdung entwickelt. Der VAR hat nicht nur Entscheidungen verändert – er hat den Charakter des Fußballs berührt. Und viele fragen sich heute: Hat die Suche nach absoluter Gerechtigkeit den Kern des Spiels zerstört?



Der Traum vom fehlerfreien Fußball – und warum er ein Irrtum war


Die Idee, dass Technik menschliche Fehler beseitigen kann, klingt verlockend. Seit Jahrzehnten diskutierten Fans, Spieler und Experten über Fehlentscheidungen, die Meisterschaften entschieden oder Absteiger besiegelten. Der VAR versprach, dieses Leid zu beenden. Doch der Fußball lebt nicht von Perfektion, sondern von Menschlichkeit. Der Reiz liegt darin, dass Emotionen, Instinkte und Fehlurteile Teil des Spiels sind. Sie erzeugen Diskussionen, Leidenschaften, Mythen – sie machen Geschichte.

Was wir heute erleben, ist das Gegenteil dieser Vision. Statt Klarheit bringt der VAR neue Unsicherheiten. Entscheidungen dauern ewig, Unterbrechungen zerstören den Rhythmus, und am Ende bleiben trotzdem Zweifel. Denn auch Kameras liefern keine absolute Wahrheit – sie schaffen nur eine andere Perspektive, nicht zwingend eine gerechtere.



Emotionen auf Standby: Wenn Jubel zur Abwägung wird


Früher war der Moment eines Tores magisch. Das Netz zappelte, die Fans explodierten, der Jubel kannte keine Kontrolle. Heute ist dieser Moment ein anderer: Jubel auf Bewährung.Spieler bleiben oft stehen, die Zuschauer schauen zögerlich zur Seitenlinie, der Trainer blickt zum Vierten Offiziellen. Der Schiedsrichter legt die Hand ans Ohr, alle halten den Atem an. Sekunden – manchmal Minuten – vergehen, bis Klarheit herrscht.

In dieser Zeitspanne verliert der Fußball das, was ihn so einzigartig macht: den Augenblick der Emotion. Wenn der VAR am Ende bestätigt, dass das Tor zählt, ist der Moment längst vorbei. Es fühlt sich an, als würde man eine Aufzeichnung schauen, nicht ein Live-Erlebnis. Der VAR hat das spontane Herzklopfen ersetzt durch technisches Warten – kalt, präzise, steril.



Millimeter statt Menschenverstand


Einer der größten Kritikpunkte am VAR ist seine Übergenauigkeit.Der ursprüngliche Plan war, nur bei klaren und offensichtlichen Fehlentscheidungen einzugreifen. Doch längst korrigiert er Situationen, die mit bloßem Auge kaum zu erkennen sind. Ein Zehennagel im Abseits, eine Hand im unnatürlichen Winkel, ein minimaler Kontakt – und schon greift die Technik ein.


Das Problem dabei: Fußball ist kein statisches Spiel. Es lebt von Bewegung, Tempo und Interpretation. Die starre Logik der Maschine steht im Widerspruch zu diesem Charakter.Was früher durch Fingerspitzengefühl entschieden wurde, wird heute nach Pixeln beurteilt. Der VAR hat das Spielfeld in ein Vermessungslabor verwandelt – und der gesunde Menschenverstand bleibt dabei oft auf der Strecke.



Der Schiedsrichter als Marionette der Technik


Der VAR sollte den Schiedsrichter entlasten – doch in Wahrheit hat er ihn geschwächt.Früher war der Unparteiische die höchste Instanz auf dem Platz. Er entschied, er kommunizierte, er stand im Mittelpunkt der Verantwortung. Heute wirkt er oft wie ein Statist im eigenen Spiel.Jeder Pfiff wird hinterfragt, jede Karte überprüft. Der Schiedsrichter weiß: Wenn ich mich irre, greift „Köln“ ein. Dieses Sicherheitsnetz sorgt nicht für Ruhe, sondern für Unsicherheit.

Das führt zu paradoxen Situationen: Schiedsrichter lassen Fouls weiterlaufen, um dem VAR die Entscheidung zu überlassen. Sie wirken gehemmt, zögerlich – aus Angst, überstimmt zu werden.Das Vertrauen in ihre Autorität schwindet, und das Publikum spürt das. Der Platz verliert seinen Richter, das Spiel verliert seine klare Linie.



Mehr Diskussionen als je zuvor


Ironischerweise hat der VAR genau das Gegenteil dessen erreicht, was er versprach. Statt Diskussionen zu beenden, hat er sie vervielfacht.Heute wird nicht mehr über „Foul oder nicht Foul“ gestritten, sondern über „Frame 28 oder Frame 29“. Über Kalibrierungslinien, Kamerawinkel, Zeitlupengeschwindigkeiten.

Die Debatte hat sich verschoben – weg vom Sport, hin zur Technik. Statt über Leidenschaft zu reden, sprechen wir über Verfahren. Statt über Gerechtigkeit zu diskutieren, reden wir über Algorithmen.Und damit wird der Fußball zu einem Produkt, das immer weiter von seiner Basis entfernt ist: den Fans. Denn diese wollen kein Videostudium, sie wollen ein Erlebnis.



Wenn der VAR das Vertrauen zerstört


Das größte Problem am VAR ist nicht die Technik selbst, sondern das Misstrauen, das sie erzeugt.Vor seiner Einführung war klar: Der Schiedsrichter kann sich irren, und das gehört dazu. Heute hingegen glaubt niemand mehr an Fehler – sondern an Versagen des Systems. Fans fragen sich: Warum greift der VAR in der einen Szene ein, in der anderen aber nicht? Warum dauert es hier 30 Sekunden, dort fünf Minuten? Die Intransparenz frisst das Vertrauen.

Der VAR sollte die Glaubwürdigkeit stärken – doch er hat sie untergraben. Statt Akzeptanz hat er Skepsis geschaffen. Statt Respekt für den Schiedsrichter hat er die Kluft zwischen Fans, Spielern und Offiziellen vergrößert.



Der Preis der Perfektion


Es gibt Momente, in denen der VAR tatsächlich hilft – wenn er einen klaren Fehler korrigiert oder eine offensichtliche Ungerechtigkeit verhindert. Niemand will bestreiten, dass Fehlentscheidungen schmerzen.Aber der Preis, den wir für diese Präzision zahlen, ist hoch. Wir verlieren Emotionen, Vertrauen und Spontaneität – und bekommen dafür Bürokratie und Stille.

Der Fußball war nie perfekt, und genau das war seine Stärke. Er spiegelte das Leben wider: chaotisch, unfair, leidenschaftlich, unberechenbar.Der VAR will dieses Chaos ordnen – und hat dabei etwas zerstört, das man mit keiner Technologie der Welt wiederherstellen kann: das Gefühl, etwas Echtes zu erleben.

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